12/2018: Der Meister und Literatura | Simon Nabatov verknüpft russische Literatur und Musik

Rezension von Uwe Bräutigam auf nrwjazz.net

Text & Fotos: Uwe Bräutigam

Köln, 13.12.2018 | “The past is too narrow. Throw Pushkin, Dostojewski, Tolstoy etc. etc. over board from the ship of modernity,“ ruft Jaap Blonk mit wilder Stimme in die Musik hinein. Textstellen aus dem Manifest der russischen Futuristen von 1912 – den Lesern des “Neuen Unerwarteten“ gewidmet. Der Vokalkünstler Jaap Blonk ist Mitwirkender in einem Konzert im Kölner LOFT. Begleitet wird er von Frank Gratkowskis wilden Ausbrüchen an Klarinette oder Altsaxophon, von Simon Nabatovs abstrakten Klavierklängen und dem Schlagzeugspiel Gerry Hemingways, mit Marcus Schmicklers elektronischen Geräuschen vermengt. Aber auch lyrische und ruhige Passagen haben Raum. Luftgeräusche der Klarinette gepaart mit elektronischen Klängen, wildes Grunzen, Heulen, Schreien und überblasenes Altsaxophon wechseln sich ab bzw. gehen Hand in Hand. Es gibt sogar einen folkloristisch anmutenden Teil, der sich wie das leicht verfremdete trunkene Lied einer Gruppe junger Leute anhört.

“Could you, could you, could you perform a Nocturno on a drainpipe flute?“ Mit dieser Frage der Futuristen werden die alten Formen in Frage gestellt und eine Art Antiästhetik propagiert, wie sie dann später in den 70er Jahren des 20.Jh.von der Punkbewegung aufgegriffen wird.

Simon Nabatov, einer der avancierten und vielseitigsten Pianisten im Bereich Jazz, improvisierter und experimenteller Musik, stellt mit seinem Programm Readings im LOFT Kompositionen vor, in denen er russische Literatur und Musik miteinander verknüpft.

Reading I: Gileya revisited – beschäftigt sich mit dem Wirken der russischen Futuristen der 1910er Jahre und ihren Texten.

Nabatov hat in sechzehn kleinen zusammenhängenden Stücken musikalisch dem Aufbruchgeist der jungen russischen Futuristen Khlebnikov, Kruchenykh, Kamensky, Burlyuk und Mayakovsky, die sich in der Gruppe Gileya zusammenschlossen, nachgespürt und dabei kurze Textstellen in englischer Sprache in seine Komposition eingewoben. Den aufsässigen, frechen, jugendlich-respektlosen Ton der Futuristen, ihr Hunger nach Zukunft, nach etwas Neuem, setzt Simon Nabatov in seinen Miniaturen in Musik um. Einige der Stücke schrieb er schon vor längerer Zeit, andere sind jüngeren Datums. Der persönliche Zugang zu den Texten ist für Nabatovs Musik wichtig. Der Sturm und Drang der Futuristen verbindet sich mit Nabatovs eigener Aufbruchstimmung als junger Mann, die lyrischen Verse Khlebnikov verbinden sich mit Nabatovs eigener Empfindsamkeit und die abstrakten Gedichte Kruchenykhs und Khlebnikovs in der “transrationalen“ Phantasiesprache Zaum verbinden sich mit Nabatovs Lust am Experimentieren in der Musik.

Nabatovs Zugang zur Geisteswelt der Futuristen ist von biografischen Aspekten gefärbt. Er kann sich aufgrund seiner eigenen Erfahrung als junger Musiker Ende der 70er in Moskau in deren Erlebniswelt einspüren. Für Nabatov war es die Sehnsucht, sich mit anderen jungen Leuten zusammenzutun und neue Formen der Musik und Kunst zu erobern. Eine Sehnsucht, die in der damaligen Sowjetunion nicht erfüllbar war, aber dieses Gefühl hat ihn nicht verlassen. Erst nach der Emigration in die USA konnte er sich ganz frei neuen Ausdruckformen zuwenden.

Reading II: Die Reiterarmee unterscheidet sich sehr vom ersten Teil. Das Werk basiert auf dem berühmten gleichnamigen Buch des Schriftstellers Isaak Babel, der in kurzen Erzählungen über die Schrecken in der 1. Roten Reiterarmee während des Polnisch-sowjetischen Krieg (1919-1921) berichtet. Hier werden einzelne Textstellen aus Babels Erzählungen in die Musik integriert. Die andere Stimmung wird durch einen Sprecherwechsel noch unterstrichen. Phil Minton, der schon in früheren Literaturprojekten Nabatovs dabei war, ist der Stimmkünstler von Reading II.

Der zweite Teil beginnt mit der Einspielung des damals in der Sowjetunion sehr bekannten Budjonny Marsches. Ein Marschlied in dem der Befehlshaber der Roten Reiterarmee Semjon Budjonny als glorreicher Held und Vorbild mystifiziert wird. Marcus Schmickler spielt diesen Marsch an und beginnt dann ihn mit elektronischen Geräuschen zu (zer)stören. Genau das war auch die Wirkung des Textes Die Reiterarmee von Isaak Babel. Die glorifizierten Roten Reiter erscheinen dem Leser eher als ein Haufen verrohter Banditen.

Isaak Babel, ein junger jüdischer Schriftsteller, ein kommunistischer Idealist, nimmt als Journalist am Feldzug der 1. Roten Reiterarmee unter Führung von Budjonny gegen die polnische Invasion teil. Dort erlebt er die Entmenschlichung der Soldaten und die Zerstörung der Individualität durch Indoktrination. Er wurde mit Gewalt, Vergewaltigung, Antisemitismus und anderen Gräueltaten konfrontiert. Babel konnte dies nicht mit seiner Vision einer besseren Welt verbinden und gerät in eine Identitätskrise. Er entscheidet sich seine Erfahrungen ungeschönt darzustellen. Diese Zerrissenheit Babels hat Simon Nabatov in Musik umgesetzt. Er hat in sich hineingehorcht, wie die Texte auf ihn wirken und dies versucht mit seiner Musik auszudrücken.

Babel, der junge feinfühlige Intellektuelle gerät in nahezu surreale Situationen voller Gewalt. Die Musik bildet auch einen gewissen Kontrast zu den konkreten Szenen aus dem Text. Phil Minton liest diese Textstellen nicht, sondern er führt sie auf. Oft erinnert sein Vortrag an Röcheln und Ersticken. Die albtraumartigen Erlebnisse drückt er auf seine unnachahmliche Weise aus. Er ist nur zu einem kleinen Teil Sprecher des Textes, zum größten Teil ist seine Stimme ein weiteres Musikinstrument. Das gilt auch für Jaap Blonk.

Die Reiterarmee ist mehr ein musikalisches Psychogramm und weniger ein Versuch der Umsetzung des Textes. Auch wenn Gerry Hemingway immer wieder mit seinen Trommeln das Marschieren oder Reiten der Soldaten subtil andeutet, kreiert das vor allem eine Stimmung von Krieg und Bedrohung.

Zu Isaak Babel und seiner Identitätskrise hat Simon Nabatov nicht nur einen literarischen sondern auch persönlichen Bezug. Simon Nabatov in Moskau geboren, stammt aus einer jüdischen Familie und war in der Sowjetunion von seiner Identität als Jude aber vollkommen abgeschnitten. Seine persönliche Identitätsunklarheit verbindet sich mit der von Isaak Babel, seiner Desillusionierung, seinem Abfall vom kommunistischen Glauben. Dieser tiefgründige Ansatz durchzieht die Musik des zweiten Teils. Während im ersten Teil, kurze Elemente manchmal wie hingetupft sind, gibt es im zweiten Teil längere Entwicklungen.

Mit den beiden Werken knüpft Simon Nabatov an seine “Russische Triologie“, die er 2004 mit A Few Incidences, inspiriert von Texten des russischen Avantgarde Autors Daniil Charms, abschloss. Die Musik ist eher kammermusikalisch geprägt. Charms war sehr von den Futuristen beeinflusst und wurde ebenso wie Isaak Babel von Stalins Häschern ermordet.

Begonnen hatte Simon Nabatov seine Literaturprojektemit Musik zum Gedicht des Nobelpreisträgers Joseph Brodsky Nature Morte. Brodsky, der ebenfalls Jude war, emigrierte wie Nabatov in die USA. An diesem Projekt waren auch Frank Gratkowski und Phil Minton beteiligt.

Als letztes ist seine große Komposition Der Meister und Margarita zu nennen, von Bulgakows wichtigem Werk der Weltliteratur inspiriert. Diese zehnteilige Suite ist nach der Handlung des Textes strukturiert und in gewissem Sinne Programmmusik, die aber auch völlig eigenständig ohne Bezug zum Text als Musikstück für sich stehen kann. In diese Musik fließen die Erfahrungen Nabatovs sowohl aus dem Jazz als auch aus der Klassik ein und bilden ein großes Stück Gegenwartsmusik. Aufgenommen wurde die CD im Kölner LOFT.

Simon Nabatov hat mit seinem Konzert: Readings nun den Faden wieder aufgenommen und sich wieder der russischen Literatur zugewendet. Gileya revisited und Die Reiterarmee sind ein Füllhorn an musikalischen Ideen und vielleicht können wir in absehbarer Zeit die Musik, die im LOFT mitgeschnitten wurde, als CD nachhören können.

Die Musiker, die bei Readings mit Simon Nabatov zusammenspielen sind:

Frank Gratkoski an Saxophon, Klarinetten und Flöte, einer der wichtigsten Holzbläser im Bereich Improvisationsmusik und kreativem Jazz in Europa;

Gerry Hemingway am Schlagzeug, ein legendärer Drummer des Avantgarde Jazz, der vielen großen Musikern, von Anthony Braxton bis Cecil Taylor zusammengearbeitet hat;

Marcus Schmickler an der Elektronik, international bekannter Komponist und Performer im Bereich der elektronischen Musik.

Jaap Blonk, Stimmkünstler, Komponist, Dichter und Musiker aus den Niederlanden ist einer der wichtigsten Vokalkünstler in Europa, er wirkt in Reading I mit.

Phil Minton, Vokalist, Free Jazzer und Trompeter, ist auf die Performance von literarischen Texten spezialisiert, er wirkt in Reading II mit.

Weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten der CDs:

www.nabatov.com/