10/2021: Simon Nabatov | No Kharms Done

Rezension von Uwe Bräutigam auf nrwjazz.net

Text & Fotos: Uwe Bräutigam

Köln, 29.09.2019 | Simon Nabatov wendet sich wieder dem russischen Schriftsteller Daniil Kharmas (alte Schreibweise Charms) zu. Schon vor 16 Jahren hat er Kharms musikalisch verarbeitet.

Für Simon Nabatov, der 1979 aus der Sowjetunion nach New York emigrierte, ist die russische Literatur ein wichtiger Begleiter, die ihn immer wieder inspiriert. Von 2001 bis 2004 hat er in die russische Trilogie komponiert, die Bulgakov, Brodsky und Kharms gewidmet war.

2018 hat er sich den Futuristen und Isaac Babel zugewandt. Nun ist er mit der Komposition No Kharms Done zu Daniil Kharms, einem Vertreter des literarischen Absurdismus zurückgekehrt.

Der Titel ist bittere Ironie und spielt mit dem Worten “harms“ und Kharms. Aber in Wirklichkeit ist dem Dichter sehr viel “harm“ zugefügt worden. Kharms, der 1905 in Petersburg geboren ist, gründete 1927 die Künstlergruppe Oberio (Vereinigung der Realen Kunst), die 1930 verboten wurde. Seine Werke durften nicht mehr gedruckt werden, er wich dann auf Kinderbücher aus. 1941 wurde er ins Gefängnis geworfen und ist dann 1942 in der Gefängnis Psychiatrie gestorben. Sein Hauptwerk sind 30 Kurzgeschichten, die er Fälle nannte. Diese Texte sind bitterer absurder Humor mit Tiefe. Kharms schrieb in sein Tagebuch:

„Mich interessiert nur Quatsch, nur das, was gar keinen praktischen Sinn hat. Mich interessiert das Leben nur in seiner unsinnigen Erscheinung.“ Einen Satz den Nabatov auch in seiner Komposition benutzt. Die Texte, die Simon Nabatov verarbeitet hat, sind alle in Englisch, wegen dem Sprecher Phil Minton. Nabatov sagt, er suche noch einen “russischen Phil Minton“ dann würde er die Originalsprache verwenden.

Für sein Projekt No Kharms Done hat er eine internationale Band zusammengestellt. Der einzigartige Stimmkünstler Phil Minton aus England, der erfahrene und renommierte Avantgarde Saxophonist Matthias Schubert, Posaunist Wolter Wierbos aus den Niederlanden, seit 30 Jahren in Misha Mengelbergs Orchester ist und Jim Black aus der Downtown Szene in New York. Vier großartige Musiker der Avantgarde mit vielfältigen Erfahrungen.

Die Komposition von Nabatov besteht aus neun Teilen, die kurze Texte von Kharms aufgreifen, wie der “Der Fall Petrakov“ oder “Wie ein junger Mann einen Wächter zum Staunen brachte“. Dazwischen sind zwei elektronische “ Interludes“ eingefügt, die von Jim Black mit Live Samples eingespielt werden. Am Ende klingen dann doch noch einige Textstellen in Russisch an, die eingespielt werden.

Die Musik ist sehr vielfältig und arbeitet mit Schockeffekten, die sich aus plötzlichem Dynamikwechsel ergeben. Die Komposition beginnt mit einem wilden Ensemble Tutti, passend zu der Geschichte “Hetzjagd“ Ruhige Passagen wechseln mit wohl kalkuliertem Chaos. Langsame Passagen wechseln mit rasanter Schnelligkeit in Zeitraffertempo. Phil Minton jault, heult, quietscht, jammert, winselt stöhnt oder spricht mit tiefer sonorer Stimme. Er zelebriert die Texte auf unnachahmliche Weise. Aber auch der Posaunist Wierbos und der Saxophonist Schubert spielen teilweise exzessiv und geben dem Stücken Energie. Jim Black arbeitet nicht nur mit seinem Schlagzeug, sondern setzt auch Elektronik ein.

Simon Nabatov und seine Musiker verwandeln das Kölner Loft in einen Moskauer Künstlerkeller, in dem sich die Avantgarde trifft. Die Musik von Nabatov wird dem absurden Dichter Kharms mehr als gerecht. Sie setzt dem Schriftsteller ein passendes Denkmal, nicht in Stein gemeißelt, sondern aus vielen Tönen bestehend, voller Wendungen und Ideen, die das Absurde seiner Texte wiedergeben.

Link zu den Reading Konzerten von Simon Nabatov zu den Futuristen und zu Isaac Babel.