09/2020: What you have missed – Root 70

von Michael Rüsenberg – jazzcity.de

What you have missed – Root 70

Premiere hatten sie am 12. Juni 2000 auf dem Moers Festival. Ihr „musikalisches Wohnzimmer“ aber ist das LOFT in Köln-Ehrenfeld. Von dort, nicht vom Stadtgarten, sind mindestens zwei von ihnen zu, tja, wenn nicht zu Welt-, so ganz sicher doch zu Europa-Ruhm gelangt.
Nils Wogram, tb, lebt seit längerem in Zürich, Hayden Chisholm, as, inzwischen in Belgrad. Matt Penman, b, und Jochen Rückert, dr, waren auch damals schon aus New York City angereist.
Root 70 (sie alle sind in den 70ern geboren), auf ihrer 20-Jahre-Tournee nahmen sie mal wieder „daheim“ Platz. Für Konserven-Freunde hatten sie eine Box ausgelegt, Inhalt: 1 LP, 8 CDs, ein Fotoband plus USB-Stick mit Videos – keine Frischware.
Bilanzieren war das Programm. In Köln in vier Konzerten á 1 Stunde ein jeweils anderer Ausschnitt aus dem Riesen-Repertoire.
Dass sie dafür nicht – wie weiland Miles Davis – extra proben, sollte nicht zu falschen Schlüssen verleiten. Hieß es bei jenem bekanntlich „Spiel´ das, was nicht da ist!“, gründet hier die Spielsicherheit der bald Fünfzigjährigen auch darin, dass sie vor jedem Stück das Notenpapier wenden.
Eine andere große Gewissheit liegt „in den Fingern“ (Wogram), mit denen (dank ihrer Impulsgeber aus den Oberstübchen) sie die Themen in jagendem unisono meistern. Und, nicht zuletzt, dass sie sich überraschen lassen können („das hat der so noch nie gespielt!“). Wir Zuhörer nahmen´s dankbar zur Kenntnis.

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© Gerhard Richter

Was Root 70 auch anpacken, es ist nie Genremusik – es ist immer Root 70. Spielen sie einen Blues, z.B. „Hot Summer Blues“ oder „Twenty Four“ (beide aus „Listen to your Woman“, 2010), klingt es erst mal gar nicht danach. „Hot Summer Blues“ startet mit Obertongesang (Chisholm) und multiphonics (Wogram) und geht dann melodisch auf Balkanroute. „Twenty four“ schlendert durch 24 Tonarten und knüpft mikrotonal an das Vorgängeralbum „Root 70 on 52nd 1/4 Street“ (2007) an. Sinkt´s dann mal richtig in den Blues, in „Melancholia“, rezitiert Hayden Chisholm darüber einen Text von Robert Walser (1878-1926), auf Englisch. Das Verblüffende aber ist nach wie vor, wie die vier die schweren Zeichen als etwas absolut Leichtes ausgeben. Wie sie, auf gut Deutsch, die Vorgaben vom Papier transzendieren.
Es ist ein reines „Fahrvergnügen“.
20 Jahre Root 70. Aus den Ansagen von Hayden Chisholm ließ sich andeutungsweise – und zutreffend? – ablesen, dass so ein Zeitraum kein Zuckerschlecken ist.
Ad multos annos!
(Der Deutschlandfunk hat mitgeschnitten und wird beide Sets senden, am 24.11 und 01.12., jeweils 21.05h)