03/2015: Interview mit dem WDR Jazzpreisträger Nicolas Simion

29.03.2015

Immer mehr freie Improvisation

Text & Foto: Uwe Bräutigam
Text & Foto: Uwe Bräutigam

Nicolas Simion war mit seiner Gruppe im Kölner Loft und hat Aufnahmen für eine neue CD gemacht. Am Abend gab es dann ein Konzert. Die Musiker waren etwas erschöpft und es dauerte ein paar Stücke bis sie zu sich fanden. Im zweiten Set waren alle angekommen und das Zusammenspiel funktionierte sehr gut. Ein Konzert mit neuen Stücken, viel Raum für Improvisation und dem gewohnten Touch Balkanmusik, der dem Jazz von Nicolas Simion die besondere Note gibt. Nach dem Konzert hat sich Uwe Bräutigam mit Nicolas unterhalten.

Als erstes möchte dir im Namen von NRW JAZZ zum WDR Jazzpreis gratulieren, der dir im Januar verliehen wurde.

Vielen Dank. Ich freue mich auch sehr darüber und fühle mich geehrt, dass meine Arbeit gewürdigt wurde. Ich habe drei verschiedene CDs eingereicht: ein Duo mit Sebastian Sternal am Klavier, dann eine CD der Gruppe, mit der ich die CD„Tarantella Facile“ aufgenommen habe und die CD „Classic needs Jazz“ mit Symphonieorchester und Jazzcombo. So konnte ich mein breites Spektrum an Musik präsentieren. Ich bin ja nicht nur Saxophonist, sondern auch Komponist und Improvisator. Ich versuche immer, meine Musik weiter zu entwickeln und Neues zu entdecken.

Kannst du ein paar Worte zu dem Konzert zu sagen, dass du gerade gespielt hast?

Die Hälfte der Stücke war neu. Andere habe ich schon in verschiedenen kleinen Besetzungen aufgenommen. Aber ich wollte das Repertoire in der Besetzung von „Tarantella Facile“ spielen. Vier Leute, Antonis Anissegos (p), Norbert Scholly (g), Ryan Carniaux (tp, fh) und ich waren aus dieser Besetzung heute dabei.

Das sind alles ausgezeichnete Musiker. Ich möchte, dass wir nicht wie eine konventionelle Band spielen, so dass alles geprobt ist und alle Stücke sitzen. Die Musiker sollen kreativ und spontan sein, wir wollen einander auch überraschen. Manchmal funktioniert es gut, manchmal nicht. Aber wenn man die Gelegenheit nicht nutzt, etwas Anderes zu machen, als das, was man immer macht, dann landet man in einer musikalischen Sackgasse. Mit Antonis, Ryan und Bruno Levacich (dr) sind wir in einer offenen Richtung unterwegs. Nun haben wir Norbert Scholly (g) und Martin Gjakonowski (b) mit hinzugenommen und im zweiten Set auch die großartige Saxophonistin Karolina Strassmayer (as). Ich will nicht sagen, dass wir unser bestes Konzert gespielt haben, aber ich bin sehr zufrieden. Es ist ein weiterer Schritt in Richtung freies Spiel.

Seit Jahren integrierst du Volksmusik des Balkans in deinen Jazz. Dass ist dein Markenzeichen. Schon in der Klassik gab es eine Periode, in der es ein großes Interesse an der Volksmusik des Balkans gab. Ich denke an Bartok, Kodaly, Brahms u.a. Was interessiert Dich besonders an dieser Musik?

Ja, im 19. Jahrhundert gab es eine Zeit, in der die klassischen Komponisten die Folklore und die Bauernmusik entdeckt haben. Diese Volksmusik hat für mich eine gewisse Frische, sie klingt anders als die klassische Musik. In dieser Musik ist viel Gefühl und Rhythmus. Die Leute, die diese Musik über die Jahrhunderte pflegten, haben dies mit sehr viel Seele getan. Diese Musik hat eine große Tiefe. Die traurigen Balladen können die Menschen zum Weinen bringen, dabei geht es nicht nur um den Text, sondern auch um die Musik. Ich habe solche Gefühle, wenn ich so etwas spiele. Dann brauche ich nicht Charlie Parker oder Sonny Rollins. Obwohl das große Musiker sind, die ich auch gerne höre. Zuhause habe ich viele Tonaufnahmen aus den 40er und 50er Jahren, Lester Young, Sonny Rollins, John Coltrane, Orrnette Coleman oder Wayne Shorter und viele andere Größen. Aber diese Volksmusik bewegt mich auf eine ganz natürliche Art, sie ist ein Teil von mir.

Bist du auch mit dieser Musik aufgewachsen?

Als Kind habe ich zehn Jahre in einem Dorf in Transsilvanien gelebt. Dort gab es eine Gruppe von Musikern, die auf Hochzeiten oder anderen Festlichkeiten spielten. Sie wohnten gegenüber von unserem Haus. Wenn ich sie Proben und Spielen sah, bin ich sofort hingegangen, und habe ich mich immer gefragt, wie sie das machen, ganz ohne Noten. Trotzdem klingt alles harmonisch. Sie machten das ganz spielerisch.

Über Bartok bin ich zur transsilvanischen Volksmusik gekommen. Er hat diese Musik gesammelt und ich habe versucht, mein Repertoire aus dieser Sammlung zusammenzustellen. Dann kamen natürlich Jazzelemente und auch das freie Improvisieren á la Ornette Coleman dazu. Das Timing und die Phrasierung in meiner Musik stammen aus dem Jazz.

Wie bist du in Rumänien zum Jazz gekommen? Gab es eine große Jazzszene?

Groß war die Szene nicht, aber es gab ein paar Jazzmusiker in Bukarest. Die haben Studiojobs gemacht. Es gab eine Rundfunk Bigband, die auch Konzerte gab. Die meisten konnten nicht vom Jazz leben, so haben sie in Hotels, Bars und Restaurants gespielt.

Als ich im Militärdienst war, vor meiner Musikhochschulzeit, habe ich in der Militärkapelle einen Klarinettisten kennengelernt. Der Mann besaß ein kleines Radio und er konnte zu der Musik im Radio mit der Klarinette improvisieren. Zu allen möglichen Schlagern oder zu Bossa Nova Musik konnte er spontan harmonische Improvisationen spielen. Das hat mich fasziniert und habe mir vorgestellt, dass es sehr befriedigend sein müsste, wenn es mir gelänge, meine Gedanken und Gefühle in solcher Weise in Musik auszudrücken.

Hast du in der Musikhochschule eine klassische Ausbildung erhalten?

Ja, ich habe Klarinette studiert, nebenbei auch Klavier und Komposition. Ich habe Kammermusik gemacht und im Orchester als Klarinettist gespielt. Als ich 1983 die Hochschule beendet hatte, habe ich Privatunterricht bei einem Dirigenten genommen und eine Dirigentenausbildung gemacht. Ich habe auch bei einigen Konzerten ein Orchester dirigiert. Nicht sehr oft, aber ich wollte diese Erfahrung machen. Ich wollte wissen, was eine Partitur ist und wie sich Musik orchestrieren lässt. Gleichzeitig habe ich Kompositionsunterricht genommen. Ich wollte weiterkommen und mehr über Musik wissen. Mehr über Folklore, Jazz, Klassik und Neue Musik. Auf diesem Weg bin ich immer noch. Ich habe ein Orchester zusammen mit einer Jazzcombo aufgenommen, und das ist etwas Großartiges. Gunther Schuller hat solche Sachen bereits in den 1960ern und 70ern gemacht. Leonhard Bernstein, Miles Davis und Gil Evans haben solche Musik gemacht. Ich möchte nicht nur Mainstream oder nur Ethnomusik spielen, sondern ich lasse mich von verschiedenen Stilen, von unterschiedlichen Musikern inspirieren.

In den USA und auch in Deutschland war Jazz auch eine Art Gegenkultur, war das in Rumänien auch so?

Ein wenig. Auf jeden Fall war es gut, dass wir Instrumentalmusik gespielt haben. So waren wir für die Regierung nicht so eine Gefahr. Sie haben immer geschaut, was die Leute sagen. Wir haben manchmal nur die Titel der amerikanischen Stücke übersetzt und sie als rumänischen Jazz ausgegeben, als Teil unserer Kultur. Dann haben die Behörden gesagt: „Wir wissen nicht genau was ihr da macht, aber es ist wohl in Ordnung.“

In Polen gab es eine weit größere Jazzszene, und in Ungarn gab es schon in den 1960er und 70er Jahren eine Jazzabteilung an der Hochschule. Aber es gab auch in Rumänien Menschen, die sich für diese Musik interessierten. Für mich ist es eine Art Pflicht, diese kleine Tradition, die von Musikern wie Richard Oschanitzy, Jancy Körössy oder Johnny Raducanu schon in den 1950er, 60er oder 70er Jahren begründet wurde, weiterzuführen. Wenn es mir gelingt, diese Musik weiterzuentwickeln, dann bin ich zufrieden.

Es gab also keine wirkliche Verfolgung von Jazzmusikern, so dass die Securitate immer im Hintergrund stand?

Ich persönlich kenne die Jazzszene nur in den 1980er Jahren, vorher war ich zu jung. Die Behörden haben es natürlich nicht gerne gesehen, wenn Rumänen Kontakt mit Ausländern hatten. Wenn Jazzmusiker aus dem Ausland zu Tourneen nach Rumänien kamen, dann haben wir mit ihnen Jam Sessions gemacht. Da waren immer Spitzel dabei, die Fotos machten und beobachteten, was wir miteinander sprachen. Konkrete Schwierigkeiten hatten wir aber nicht. Allerdings bekam ich von 1981 bis 1988 keinen Reisepass. Vielleicht ahnten die Behörden, dass ich nicht mehr aus dem Ausland zurückgekommen wäre.

Es hat mich natürlich besonders gereizt, einmal einen Workshop im Westen zu machen und zu sehen, wie Jazz von den Amerikanern gespielt wird. Als ich im Juni 1988 nach Ostberlin zum Jazz Bühne Festival kam und dort Ornette Coleman und seine Primetime Band oder die Electric Band von Miles Davis hörte, da waren auch The Leaders mit Joe Henderson, Woody Shaw und anderen richtig guten Musikern. Da erlebte ich, wie die Musik im Original klingt. So wollte ich auch spielen. Im Oktober 1988 hatte ich dann eine Gelegenheit, in Polen mit Jazzmusikern zu spielen. Da stand ich dann vor der Entscheidung, entweder nach Rumänien zurückzugehen und mit der Musik aufzuhören oder mich im Westen ganz dieser Musik zu widmen.

Dann war der Wunsch, kreative Musik zu machen, der Antrieb für dich in den Westen zu gehen?

Ich hatte das Gefühl, dass ich im Westen mehr und bessere Musik machen kann. In Polen hatte ich noch nicht den Mut, in einer Session mit Phil Woods und Zbigniew Namyslowski mein Saxophon auszupacken. Aber ich wusste, dass ich diesen Weg gehen würde. Ich war sehr selbstkritisch, und in den nächsten drei Jahren arbeitete ich in Wien sehr hart, um mein Niveau zu verbessern. 1991 machte ich schon die ersten Aufnahmen mit amerikanischen Jazzmusikern, daraus entstand das Album „Black Sea“. Dann begann ich mit Volksmusik zu experimentieren. Es wurde mir klar, dass ich auf diesem Weg mein ganz eigenes Repertoire herausbilden und etwas Eigenständiges entwickeln konnte. Ich brauchte niemanden zu imitieren, sondern schaffte es, eigene Musik zu schreiben und zu spielen.

Du bist in Jazz, Klassik und Folklore zu Hause, hast du zur Zeit noch andere Projekte neben deiner Band?

In der letzten Zeit bewege ich immer mehr in Richtung freie Improvisation. Meine ersten Aufnahmen in diese Richtung entstanden bereits 1999 mit Antonis Anissegos . Dann spielte ich in verschiedenen Besetzungen immer mehr frei. Wir waren Anfang März dieses Jahres mit Antonis und Chris Dahlgren (b) in Berlin und haben die Hälfte unseres Programms völlig frei gespielt. Das ist eine wunderbare Erfahrung. Dann überrasche ich auch mich selbst beim Spielen. Ich gebe mir selbst einen Tritt, anders zu spielen als bisher. Ich möchte Neues erlernen und erleben. Wir haben durch unsere Erfahrung viele fertige Bilder und Versatzstücke im Kopf, aber wenn wir ein offenes Ohr haben und den Mut zu Neuem haben, dann kommen tolle Sachen zum Vorschein. Natürlich ist nicht alles gut. Aber ich mache lieber einige Fehler, statt mich ständig zu wiederholen, wie eine Art Musikbeamter.

Text & Foto: Uwe Bräutigam Köln, 01.04.2015